Rußland kämpft um die eingefrorene Zeit

oder: warum Dinge gleichzeitig wahr und falsch sein können

Die Ewigkeit lässt sich mit dem menschlichen Verstand nicht erfassen. Aus diesem Grund ordnen wir der Ewigkeit auch extrem willkürlich Qualitäten zu. Etwas, das „schon immer“ da war, existiert vielleicht erst ein paar Monate. Gleichzeitig kann sich etwas uraltes noch immer fremd anfühlen.

Was als ewig angesehen wird, unterscheidet sich von (Sub-)Kultur zu (Sub-)Kultur. Etwas, was Gruppe 1 als ewig anerkennt, erscheint Gruppe 2 nur als kurzfristige Änderung. Diese unterschiedlichen Ansichten können zu Streit oder sogar zu Kriegen führen, wenn es die „ewige“ Zugehörigkeit von Territorien betrifft. Der Unterschied liegt im Mythos und Versuche, sie im Logos aufzulösen, scheitern an kognitiven Verzerrungen.

Im Rahmen der russischen Invasion in die Ukraine gibt es gleich mehrere solche Mythen. Ein wichtiger Vorwurf zu Beginn des Krieges war: Die Unterstützung der Ukraine sei rassistisch. Den Ukrainern würde nur geholfen, weil sie blond und blauäugig seien. Wenn man sich historische Bilder anguckt, stellen diese den Klischee-Ukrainer hingegen eher dunkelhäutig, mit braunen Haaren und Augen dar. Welche Darstellung stimmt?

Die etwas überraschende Antwort: Beide. Es kommt auf das Bezugssystem an, die soziale Hautfarbe lässt sich nicht objektiv bestimmen. Für Russen sind Ukrainer „braun“, für Westeuropäer „weiß“.

Wenn es nur bei diesem Widerspruch bliebe, wäre das für Ukrainer zwar unangenehm, aber kein massives Problem. „Weiße“ Latinos kennen es von Reisen nach Europa oder Nordamerika ebenfalls, ohne dass die Waffen sprechen. In der Ukraine kollidieren aber Ansprüche auf ein Territorium: Sowohl Rußland als auch die Ukraine betrachten es als ewigen, unteilbaren Teil ihres Staates.

Beide sehen sich als der einzige legitime Nachfolger der Kjiwer Rus’, die unter anderem über das Gebiet der heutigen Ukraine und Teile Rußlands herrschte.

    (Ich gehe im folgenden nur oberflächlich auf die Ansprüche ein, wer Details dazu wissen möchte, sollte auf eins der folgenden Angebote zurückgreifen:

Beide greifen auf die Kjiwer Rus’ als Mythos zurück, der in ihnen fortlebe. Dies obwohl die Kjiwer Rus’ keineswegs als Erste auf dem Gebiet der heutigen Ukraine herrschte. Die erste nachgewiesene Besiedlung erfolgte durch die Llinearbandkeramische Kultur und die Dnjepr-Donez-Kultur bereits in der Jungsteinzeit. Goten und Griechen hinterließen ihre Spuren. Kimmerier, Skythen, Sarmaten und Chasaren errichteten ebenfalls vor der Rus’ berühmte Reiche auf dem Gebiet.

Die Kjiwer Rus’ selbst entstand erst 822 und wurde von einem Wikinger begründet: Rjurik. Der eroberte wichtige Stützpunkte entlang der Handelsroute von der Ostsee zum Schwarzen Meer, um den Handel mit Byzanz zu kontrollieren. Der Legende zufolge sei er als „unabhängiger Richter“ von den Altostslawen und Finno-Ugriern ins Land gerufen worden. Das lässt sich zwar nicht vollkommen ausschließen, wahrscheinlich handelt es sich dabei aber um eine nachträgliche Legitimation. Anstatt schmählich erobert worden zu sein, hatten sie weise einen auswärtigen Herrscher gerufen. Auch Rjuriks Herrschaft stabilisierte sich, wenn sie nicht nur von Gewaltbereitschaft abhing. Die schnelle Slawisierung der ehemaligen Wikinger tat ihr Übriges, um aus der Fremdherrschaft eine als gerecht empfundene Herrschaft zu machen.

Im Laufe des 12. Jahrhundert schwand die Kontrolle durch das Zentrum in Kjiw, die Teifürstentümer am West- und Nordrand des Reiches gewannen an Macht: Polozk und Smolensk im Nordwesten, Pskow und Nowgorod im Norden, Wladimir-Susdal im Nordosten und Galizien-Wolhynien im Westen. Schließlich zerstörten die Mongolen im 13. Jahrhundert die Rest der Staatlichkeit und das ehemalige Kerngebiet der Kjiwer Rus’ kam unter die Herrschaft der Goldenen Horde. Infolge sahen sich mehrere Reiche als Nachfolger der Rus’: Unter anderem die Königreiche Polen und Ungarn, das Großfürstentum Litauen und ein kleines, bisher unbedeutenden Fürstentum namens Moskau.

Aus historischen Zufällen heraus sollte Moskau seine Herrschaftsansprüche im 17. Jhd. durchsetzen: Kriegsglück gegenüber die benachbarten Teilfürstentümer. Verbündeter der orthodoxen Kirche im Ringen mit Polen-Litauen, weshalb der Metropolit aus Kjiw nach Moskau zog. Der Untergang Byzanz’, in dessen Nachfolge als „Schützer der Rechtgläubigen“ sich Moskau fortan sah.

    Damit unterscheiden sich Rußland und die Ukraine übrigens nicht von anderen Staaten: Es gibt keine „natürlichen Grenzen“ von „überzeitlichen Völkern“. Nicht einmal in Europa, trotz massiver ethnischer Säuberungen im 20. Jhd. Die Vorstellung von Nationalstaaten, wie wir sie heute kennen, kam überhaupt erst im 17. Jhd langsam auf und setzte sich erst im späten 19 Jhd. flächendeckend durch. (Im Detail: Eric Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. 3. Auflage, Campus 2005.)

Nur um es zusammenzufassen, folgende Länder könnten – neben Rußland und der Ukraine – historische Ansprüche auf das Staatsgebiet der Ukraine konstruieren:

  • Schweden und Dänemark (als „gothorum rex“ und Nachfolger der Wikinger)

  • Griechenland (aufgrund der antiken griechischen Kolonisation am Schwarzen Meer)

  • Türkei (als Nachfolger der Krimtartaren)

  • Polen und Litauen (als Nachfolger des Königreichs Polen bzw. des Fürstentums Litauen)

  • Mongolei (als Nachfolger der Goldenen Horde)

  • Österreich, Slowakei, Rumänien, Ungarn (als Nachfolger des Habsburgerreichs)

Diese Ansprüche mögen absurd klingen, ließen sich aber historisch ebenso gut begründen wie jene Rußlands und der Ukraine. Es gibt keine direkte logische Verbindung zwischen der Rus’ und irgendeinem modernen Staat. Der Anspruch Rußlands und der Ukraine beruht auf Mythos: Nicht auf der Rus’ als historischem Gebilde, sondern auf der Rus’ als „ewiger“ Idee.

Beide Ansprüche schließen einander aus, weshalb ein Kompromiss unmöglich ist. (Kamil Galeev nannte dies daher einen „Krieg der Memkomplexe“).

Dieser Streit schwelt auch schon seit Jahrhunderten, im Grunde seit der russischen Eroberung des Territoriums der heutigen Ukraine im 17. Jhd. Schon Katharina die Große forderte 1764, die Ukrainer und Weißrussen müssten „russisch“ werden (nach Kappeler, S. 93+94). Im 19. Jhd. beschwerten sich Polen über die von den Habsburger Bürokraten ausgebuddelte „ukrainische Zombie-Sprache“ (Kappeler: S. 122), die nur ein „polnischer Dialekt“ (Kappeler: S. 132) sei. Ähnliche Gründe führt auch Putin in seinem Aufsatz „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“ an.

Wie alle Mythen beschreiben die russische und ukrainische Haltung nicht, was ist, sondern, was sein sollte. Sämtliche russischen Vorwürfe gegen die Ukraine und „den Westen“ beruhen im Endeffekt darauf, dass die Ukraine sich nicht gemäß des russischen Mythos verhält. Dieses Fehlverhalten lässt sich aus russischer Sicht nur mit Verschwörungen und Fremdsteuerung erklären. Es reicht also nicht, das Gebiet militärisch zu erobern: Um den Mythos durchzusetzen, müssen alle Andersdenkenden entweder bekehrt, getötet oder vertrieben werden.

Trotzdem gibt es Hoffnung: die Atommacht Frankreich betrachtete Algerien bis 1962 auch als integralen Teil seines Staates. Der algerische Aufstand wurde mit massiver Gewalt und Terror bekämpft, ähnlich dem heutigen russischen Vorgehen. Erst ein versuchter Staatsstreich französischer Generäle und die Verträge von Évian, in denen Frankreich die Unabhängigkeit Algeriens anerkannte, änderten diese Einstellung. Heute führen beide Länder normale zwischenstaatliche Beziehungen.